Zur Kuh

Die Fleckenbühler Milchkuhherde im Landschaftsbild zwischen Bürgeln und Schönstadt bei Marburg zeigt Vorbeifahrenden auf der B3, Radfahrerinnen und Spaziergängern: hier findet ursprüngliche Landwirtschaft statt. Doch ist dies zuerst einmal „nur“ ein ausgesprochen schönes Bild. Hinter diesem schönen Bild klappen für Interessierte viele Fragen auf.

Naheliegende Fragen sind sicherlich, woher die vielen Molkereiprodukte, die im Einzelhandel zu finden sind, eigentlich kommen, wie sie produziert werden und was eine Kuh benötigt, um die Milch dafür zu produzieren.

Neben Futter braucht eine Kuh vor allem ein Kalb. Alle 340-440 Tage kalbt eine Kuh. Dieses stramme Programm, unabhängig von konventioneller oder ökologischer Landwirtschaft, dient vor allem der Senkung von Verbraucherpreisen.

Die meisten Milchkuhherden sind in ihrer Genetik vollumfänglich auf die Produktion von Milch ausgelegt. Aufgenommene Energie durch das Futter wird nicht in Fleisch, sondern nahezu ausschließlich in Milch umgewandelt. Die Folge solch milchbetonter Kuhherden ist ihr mageres Erscheinungsbild.

Jedes Jahr ein Kalb bedeutet rechnerisch bei einer kleinen 70 Tier starken Herde, wie in Fleckenbühl, 35 Kuhkälber und 35 Bullenkälber pro Jahr. Während die weiblichen Tiere im eigenen oder in anderen Betrieben in der Regel eine Karriere als Milchkuh vor sich haben, sieht es für die Bullenkälber deutlich schlechter aus. Den meisten Bullenkälbern aus Milchkuherden steht ein unschönes Schicksal in Mastställen irgendwo im Nirgendwo bevor. Hier wird mit Hochleistungsfutter und ohne Bewegung versucht – gegen alle Genetik – irgendwie Fleisch zu produzieren, um den Verbraucherpreisen gerecht zu werden. Ein Umstand, den die meisten Milchbauern schmerzt, den sie aber ertragen müssen, um im Markt zu bestehen. Karriere als Fleischproduzenten machen die Bullenkälber von sog. Mutterkuhherden, mit einer fleischbetonten Genetik ohne Milchproduktion, die ein ähnlich schönes Bild in unserer Kulturlandschaft abgeben wie Milchkuhherden.

Einige Milchviehbetriebe (wie auch Fleckenbühl) versuchen mit sogenannter Zweinutzungsgenetik gegenzusteuern und die Produktion von Fleisch und Milch in einem Tier zu vereinen. Ein Schritt in eine Richtung für mehr Tierwohl; der am Markt aber heißt: mittelmäßige Milchproduktion, mittelmäßige Fleischproduktion und mittelmäßige Erträge. Neben den Milchkühen bleiben die Bullenkälber im eigenen oder benachbarten Betrieb, werden vor Ort gemästet, im besten Fall lokal bzw. regional geschlachtet und zu ordentlichen Preisen, von denen der Betrieb leben kann, verkauft.

Die schöne Nachricht ist, dass der Verbraucherdruck auf den Lebensmitteleinzelhandel zunimmt. Erste zarte Pflänzchen wie Weidemilch in den Kühlregalen sprießen bereits. Vor dem Kühlregal stehend müssen wir uns dennoch verschiedene Fragen stellen: Was passiert mit dem Bullenkalb, das geboren wurde, damit ich heute Milch trinken und Käse essen kann. Ist die Menge, die ich an tierischem Eiweiß verzehre, angemessen um Kühen, Kälbern und dem Boden, auf dem sie leben, mit Respekt zu begegnen?

Bäuerliche Tierhaltung muss ihren Nutztieren ein wesensgerechtes und zufriedenes Leben ermöglichen, sie vor Hunger, Kälte und Krankheit schützen und sie respektvoll bis in den Tod begleiten. Voller Dankbarkeit, dass sie uns ihr Leben schenken, müssen wir wieder lernen, die Tiere, die uns ihre Milch und ihr Fleisch schenken, wertzuschätzen und begreifen, dass es das eine ohne das andere nicht geben kann und dass wir als Verbraucherinnen und Verbraucher die echten Kosten dieser tierwohlgerechten Haltung bezahlen und unseren generellen Konsum tierischer Produkte überdenken müssen.

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